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Von Blicken und Erzählungen, den fremden und den eigenen

Um den Ort, an dem wir uns befinden, “richtig darzustellen”, müssen wir zurückgehen und die Geschichte ordentlich erzählen. 1


Von Iryna Herasimovich

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Übersetzerin. Sie hat Werke von Lukas Bärfuss, Georg Büchner, Monika Rinck, Nora Gomringer, Mehdi Moradpour, Jonas Lüscher, Michael Köhlmeier, Franz Hohler und Franz Kafka ins Belarussische übersetzt. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2021 ist sie Doktorandin am Slavischen Seminar der Universität Zürich im SNF-Projekt "Künste & Desinformation".


Ein kunstvolles Diagramm, das verschlungene Gehirnstrukturen darstellt, mit einem Schild, auf dem "Nowhere" steht.
Bild: Antonina Slobodchikova

Noch ungeboren, sind wir bereits den Blicken der Anderen ausgesetzt und in ihre Erzählungen eingeflochten: Wir werden als ein lang ersehntes oder ungeplantes Kind, als jemandes Hoffnung oder Scham, Herausforderung oder Stütze erzählt. Auf die Welt gekommen, begegnen wir einer Vielzahl von fertigen Formen, wie wir sein können, müssen und dürfen. Je nach Kulturkreis erben wir bestimmte Sets an Formen und Mustern, wie wir unser Leben und den Sinn des Lebens zu gestalten haben. Selbst in intimsten Angelegenheiten wie Körperlichkeit, Liebe oder Sterben stehen uns fertige Formen und Codes zur Verfügung: Welche Körper schön sind und welche hässlich, wie sich eine werdende Mutter freuen soll und wie die Trauer auszusehen hat und dergleichen.


Das mag entlasten, engt aber auch ein. Immer wieder werden Überschreitungen versucht, oft unter tadelnden Blicken der Anderen: Treten wir allerdings aus einem Kreis der geerbten Formen und Codes heraus, geraten wir schnell in die anderen hinein. Und das, obwohl wir doch polyphone und veränderbare Wesen, die wir Menschen eben sind: Niemand wird in seinem Inneren eine lineare Erzählung vorfinden, vielmehr ein Geflecht von (wie Roland Barthes es in seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe nennt) Sprach-Anwandungen, Rede-Bruchstücken, Figuren und zwar nicht im rhetorischen, sondern eher im gymnastischen oder choreografischen Sinne, die Gebärde eines Körpers in Bewegung. 2


Beweglich und vielstimmig im Inneren, in von Außen vorgegebenen Muster gedrängt - wie soll auf dieser Skala eine eigene Erzählung von unserem Leben, ein eigenständiger Blick auf uns selbst gelingen? Die Versuchung, eine eigene Lebenserzählung angesichts all dessen gar nicht zu wagen, ist groß. Nicht wenig Lebenserzählungen fügen sich nahtlos in fremde Erzählungen ein, übernehmen die Blickperspektiven der Anderen, lassen sich von diesen vereinnahmen. Welche Übermacht fremde Erzählungen und Blicke über Menschen und Kulturen gewinnen, wie gefährlich sie sind, können Fachleute aus vielen Bereichen berichten, von Psychotherapeut:innen bis Kolonialismus-Forscher:innen. Ganze Kulturen verschwinden, wenn sie nicht auf den gewohnten Blickachsen liegen: Auch heute wird immer noch von Großmacht zu Großmacht geschaut, viele Kulturen fallen durch die Raster, bleiben ungesehen und unerzählt, was so gut wie inexistent bedeutet. Welche tragischen Folgen das haben kann, sehen wir an Entwicklungen im Osten Europas: Belarus, die Ukraine und andere Länder teilen das Schicksal von über lange Zeit nicht erzählten und nicht gesehenen Ländern, die gegen die übermächtige Erzählung vom großen, geheimnisvollen Russland mit seinem besonderen Weg anzukämpfen haben.


In jeder Gesellschaft sind diejenigen Gruppen am Rand und im Nachteil, die kein Recht auf die eigene Erzählung haben und von den anderen erzählt werden, das gilt sowohl für Sklav:innen als auch für Migrant:innen oder Menschen mit Behinderungen.


Auch im privaten scheitert das ohnehin fast unmögliche Unterfangen der Liebe an fremden Blicken und Erzählungen. Sieht ein Liebender seine Geliebte etwa im Schatten der eigenen ihn vereinnahmenden Mutter, wird er jeden Versuch seiner Partnerin, einen gemeinsamen Raum zu gestalten, als Angriff auf seine Selbstbestimmtheit erzählen. Sieht sie ihn im Schatten ihres Vaters, auf den sie sich nicht verlassen konnte, wird sie seine Erzählung als Fluchtversuch lesen. 3 Wurde man als Kind von der besten Freundin verraten/stehen gelassen, wird man Schwierigkeiten haben, anderen zu vertrauen. Ein Teufelskreis. Der einzige Ausgang daraus ist das Wagnis einer eigenen (und gleichzeitig einer wirklich gemeinsamen) Erzählung, aus der heraus ein eigenständiger Blick auf sich selbst und den anderen möglich ist. Eine solche Erzählung und ein solcher Blick gelingen nicht über Nacht und nicht ein für alle Mal, es ist vielmehr ein Prozess, der womöglich nie abgeschlossen sein wird, aber gerade diese Offenheit, das noch nicht Abgeschlossene macht diesen Prozess so lebendig, macht das Leben schlechthin aus. 4


Manchmal wird die Notwendigkeit, die Dinge auf eigene Art und Weise zu erzählen, dringlicher, denn je, ja überlebenswichtig. Das zeigt sehr eindrücklich Salman Rushdie in seinem nach einem Mordversuch verfassten Buch Knife. 5 Ein unerforschtes Leben ist nicht lebenswert. Immer wieder zitiert Salman Rushdie den Satz von Sokrates. Und führt vor, wie es ist, sein Leben zu erforschen, auch wenn es auf der Kippe steht. Bereits kurz nach dem Messerattentat auf ihn, verübt durch einen islamistisch ideologisierten jungen Mann, willigt Salman Rushdie ein, im Krankenhaus gefilmt zu werden. Bereits zu Hause schaut er sich die Aufnahmen an: Bild folgte auf Bild. Mein vorgequollenes Gekochtes-Ei-Auge hing mir aus dem Gesicht, die Iris an unwahrscheinlicher Stelle und in unmöglichem Winkel auf dem geschwollenen Weiß. Der lange horizontale Schnitt über den dunkel verfärbten, aufgetriebenen Halt, die Stichwunde daneben, die klaffenden Wunden im Gesicht. Es war schwer zu verkraften. Mein Hirn weigerte sich zu verstehen, aber es war da, auf der Leinwand, bestand darauf, gesehen zu werden.


Dann merkte ich, wie ich auf unvermutete Weise auf das Geschehene reagierte. Ja, ich war schockiert, wurde zu meiner eigenen Überraschung beim Zusehen aber immer ruhiger und konnte das Gezeigte schließlich fast leidenschaftslos betrachten…


Das war der Tag, an dem wir entschieden, einen Dokumentarfilm zu drehen… Dass wir anfangs glaubten, den Film selbst machen zu können, vielleicht noch mit der zusätzlichen Hilfe eines Rechercheurs und Cutters, war gewiss naiv… Wir waren zu nahe dran, auch wenn wir das beispiellose, Einzige-Kamera-im-Raum-Material liefern konnten, brauchte es doch einen professionellen Filmemacher, der den Film um seine eigene Version ergänzte, sich aber auch um zusätzlich Notwendiges und die entsprechende Anordnung kümmern konnte.6


Mit diesem Buch und dem Film gewinnt Salman Rushdie die Hoheit über das eigene Leben wieder zurück. In dieser Situation erzählt er sich nicht nur, sondern zeigt sich auch. Nicht zufällig sollen ihm dabei professionelle Filmemacher:innen zur Seite stehen. Walter Benjamin vergleicht einen Kameramann mit einem Chirurgen. 7 Mit ihm könnte man sagen, dass ein Kameramann die Anatomie des Blicks kennt, wie ein Chirurg die Anatomie des Körpers. Mit viel Wissen kann er die richtige Anordnung schaffen, die Bilder so vorführen, dass sie dem notwendigen Blick und der eigentlichen Erzählung entsprechen. Wie ein Chirurg weiß, was und wie er operieren muss, damit der Körper wieder funktioniert, so weiß ein Filmemacher, wie er mit den Bildern operieren muss, damit die Erzählung und der Blick funktionieren. Auch eine Ergänzung um die eigene Version des Filmemachers ist Salman Rushdie wichtig. Er weiß, dass die Erforschung des eigenen Lebens nur dann gelingen kann, wenn es auch von den anderen Standpunkten und mit einem anderen Blick angeschaut werden kann.


Der Erforschung des Lebens, die Salman Rushdie unternimmt, steht in seinem Buch das unerforschte Leben seines Attentäters gegenüber: Ein junger einsamer Mann, der ohne viel Nachdenken die Erzählung der radikalen Islamisten übernimmt und einen Schriftsteller angreift und fast ermordet, von dem er selbst nur ein paar Seiten gelesen hatte. Salman Rushdie lässt den Attentäter nicht gewinnen: trotz des zugefügten Schadens hat der Täter keine Hoheit über das Leben, weder über das eigene noch über das von Salman Rushdie.


Ein unerforschtes Leben ist nicht lebenswert. Damit ist jedes Leben gemeint: ein Leben, das mit Extremsituationen wie einem Attentat konfrontiert ist, aber auch ein Leben, das kaum Brüche aufweist (und sich vielleicht gerade deshalb fremd anfühlt). Erzählen, sich fremden Blicken aussetzen, Verantwortung für den eigenen Blick und die eigene Erzählung übernehmen, das ist beängstigend. Es ist gefährlich. Es gibt keine Garantie, dass wir uns nicht nach einiger Zeit für unser erzähltes Selbst schämen, dass wir uns nicht verstecken wollen und es nicht bereuen. Das Gute dabei ist aber: Wir lernen uns selbst als menschliche Wesen kennen und erlauben es auch den anderen. Das gibt keinerlei Garantie, aber durchaus eine Hoffnung auf eine wirkliche Begegnung sowohl mit sich selbst, als auch mit den anderen.


1 aus: Jürgen Goldstein: Perspektiven des politischen Denkens; Velbrück Wissenschaft, Weilerswist, 2022, S. 16

2 Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe; Suhrkamp, Berlin 2019, S. 15 - 16

3 Vgl.: Wolfgang Schmidbauer: Animalische und narzistische Liebe; Klett-Cotta, Stuttgart, 2023

4 Vgl.: Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche. Edvard Munch und seine Bilder

5 Salman Rushdie: Knife, Penquin Verlag, 2024

6 Ebd. S. 171

7 Vgl.: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit;

Suhrkamp, Frankfurt-am-Main, 2007

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